Freitag, 27. Juni 2014

„ISIS hat unsere Revolution gestohlen“

Nur der Hass auf Iraks Premier Maliki eint eine breite Front militanter arabischer Sunniten – Die Brutalitäten der radikalen Jihadis empört ihre strategischen Partner
 
von Birgit Cerha
 
„Das ist eine Revolution der Sunniten.“  Ein junger Kämpfer aus der sunnitischen Provinz Anbar drängt die britische BBC, doch der Welt klarzumachen, dass Iraks arabische Sunniten nicht für die Gräueltaten in Mosul oder anderen von sunnitischen Kämpfern eroberten Gebieten des Nord-Westiraks verantwortlich sind. „Wir sind keine Terroristen“, betont der junge Mann in einem Gespräch im nordirakischen Kurdistan, wo er sich mit Gesinnungsgenossen auf die große Schlacht um Bagdad vorbereitet. Die jungen Kämpfer treibt der Hass auf Premier Maliki, doch zugleich auch tiefe Animosität gegen die Extremistenorganisation ISIS (Islamischer Staat des Iraks und Syriens), die jeden Sieg gegen die Regierungsstreitkräfte für sich in Anspruch nimmt und unter Gegnern, wie Zivilisten mit ungeheurer Brutalität wütet. „ISIS hat uns die Revolution gestohlen“, und die Welt müsse dies begreifen. „unser Kampf gegen ISIS ist nur aufgeschoben.“
Tatsächlich gehen die rasanten militärischen Eroberungen weiter arabisch-sunnitischer Gebiete des Iraks, die ISIS für sich in Anspruch nimmt, keineswegs nur auf das Konto einer relativ kleinen, doch sehr schlagkräftigen Gruppe radikaler Fanatiker. Die tiefe Frustration und Verzweiflung angesichts der gravierenden Diskriminierungen und Repressionen durch die vom Schiiten Maliki geführte Regierung in Bagdad hat eine breite Front arabischer Sunniten in eine Zweckallianz mit den kampferprobten Jihadis der ISIS  getrieben, die zudem dank jüngster Eroberungen im syrischen Kriegsgebiet, wo sie weiterhin wichtige Stützpunkte unterhalten, über ein großes Waffenarsenal verfügen. Laut irakischen Quellen haben sunnitische Gruppen, die nicht der ISIS angehören, eine wichtige Rolle bei den jüngsten Kämpfen gespielt und diese sogar in einigen Regionen, darunter Mosul und die Provinz Kirkuk, beherrscht.
Eine Koalition von fast 80 sunnitischen Stämmen, sowie 41 bewaffneten Gruppen bilden die Front mit ISIS. Zu ihnen zählen salafistische Fraktionen wie die „Armee der Mudschahedin“ und die „Ansar al Sunna“, gemäßigtere islamische Organisationen wie die „Irakische Hamas“ oder die „Islamische Armee“. Die neben ISIS wahrscheinlich stärkste Gruppe ist der zu Jahresbeginn gegründete „Allgemeine militärische Rat für irakische Revolutionäre“ (AMRIR), dem sunnitische Stammesführer, ehemalige Führer des Sunniten-Aufstands (2005-07) in der Zeit der US-Okkupation angehören, vor allem aber ehemalige Offiziere der von den USA 2003 aufgelösten Armee, sowie Politiker des gestürzten Diktators Saddam Hussein angehören. Geführt wird AMRIR von einstigen Generälen Saddams und der ehemalige Stellvertreter des Diktators Izzat Ibrahim al-Douri, der einzige der führenden Politiker jener Zeit, der bis heute einer Verhaftung entgehen konnte, dürfte in AMRIR eine zentrale Rolle spielen.   Sie gehören der 2007 gegründeten „Armee des Naqschbandi Ordens“, einem mystischen Sufi-Orden des Islams an, der tiefe Wurzeln in der sunnitischen Gesellschaft des Iraks hat. Die „Naqshbandi-Armee“ besteht im Kern insbesondere aus Anhängern Saddam Husseins und der panarabischen Baath-Partei. Zu ihnen sollen auch gut getarnten, augenscheinlich gemäßigte Politiker und angesehene Würdenträger zählen, die sich während der US-Besatzung nur scheinbar zur Demokratie bekannt haben sollen. AMRIR dürfte wohl vor allem wegen Naqschbandis starkem Rückhalt unter den Sunniten längerfristig die stärkste Kraft in dieser Front sein. Deshalb auch hatten die USA bereits 2009 den „Naqschbandi Orden“ als gefährlicher eingestuft als „Al-Kaida im Irak“, aus der ISIS gewachsen ist.
ISIS, die sunnitischen Stämme, Geistlichen und die Politiker kämpfen gemeinsam für ein Ende der Kontrolle sunnitischer Städte und Regionen durch die Zentralregierung, gegen deren diskriminierende Politik sie ein Jahr lang ohne Erfolg protestiert hatten. Doch darüber hinaus  verfolgen sie krass unterschiedliche Ziele. ISIS zeigt kein Interesse für national-irakische Anliegen, sondern will mit brutalsten Methoden, die einen Krieg zwischen Schiiten, deren Schutzmacht Iran und Sunniten auslösen sollen, schließlich einen islamischen Staaten auf dem Boden des Iraks und Syriens und später darüber hinaus gründen. Unter keinen Umständen wird sie einer politischen Lösung zustimmen, die die gegenwärtigen Grenzen des Iraks erhält oder lokalen politischen Parteien die Kontrolle sunnitischer Gebiete überlassen. Einige radikale salafistische Fraktionen stimmen den Zielen von ISIS zu, würden sich jedoch mit einer Lösung zufrieden geben, die sich nicht auf syrisches Territorium erstreckt, vielleicht einem unabhängigen sunnitischen Staat im West-Irak. Gemäßigtere Islamisten wie die „Irakische Hamas“ streben nach einer autonomen sunnitischen Provinz nach dem Vorbild des nord-irakischen Kurdistan. Andere, darunter einige sunnitische Politiker  und Stammesführer lehnen sunnitische Selbstverwaltung ab und würden sich mit politischem Wandel in Bagdad begnügen, wenn die neuen Führer die Identität der sunnitischen Regionen garantieren. Die Baathisten und der Naqschbandi-Orden lehnen jede Form islamistischer Regierung entschieden ab und streben nach Restauration der Herrschaft der Baath. Sie sind davon überzeugt, dass der Irak  heute vom Iran beherrscht wird und deshalb das Regime gestürzt und eine neue Ordnung errichtet werden müsse.
Politische Kräfte mit derart unterschiedlichen Zielen werden sich niemals auf eine Endlösung einigen können. Tatsächlich kam es bereits jetzt zu ersten gewaltsamen Zusammenstößen innerhalb dieser Front. So berichten Kurden von Kämpfen zwischen ISIS und sunnitischen Stammesangehörigen in der Provinz Kirkuk, nachdem die radikalen Jihadis einige populäre Stammesführer ermorden wollten. In der Stadt Hawija, in der Provinz Kirkuk kamen bei Gefechten zwischen ISIS und der  “Armee der Männer des Naqshbandi-Ordens” zahlreiche Menschen ums Leben.
Zwischen den Fronten stehen die Sahwas, die „Söhne des Iraks“. 2005 hat das US-Militär auf dem Höhepunkt des Al-Kaida-Terrors sunnitische Stammesmitglieder für den Kampf gegen die gewalttätigen Extremisten angeworben, bezahlt und bewaffnet und damit dem Terror entscheidend Einhalt geboten. Zeitweise erreichte die Sahwa-Miliz eine Stärke von 100 000 Mann. Sie spielte eine wichtige Rolle bei der militärischen Stabilisierung des Landes. Maliki hatte versprochen, nach dem Abzug der US-Truppen die „Söhne des Iraks“ in die Sicherheitskräfte und den Staatsapparat einzugliedern, hielt sich jedoch nicht an diese Zusage und schürte auch damit die Unzufriedenheit unter den Sunniten. Nun erwägt Washington, das Sahwa—System wieder zu beleben. Viele der ehemaligen „Söhne des Iraks“ stehen unter massivem Druck von ISIS, sich ihnen anzuschließen, einige haben dies bereits getan, andere wollen mit diesen Terroristen nicht gemeinsame Sache machen, ebensowenig mit Sicherheitskräften einer Regierung, die sie so bitter verraten hatte. Zehntausende haben sich bisher nicht entschieden, doch sie könnten sich ISIS anschließen, wenn vom Iran unterstützte schiitische Milizen sich, wie zu erwarten, mit voller Kraft in den Krieg einschalten. Viele Sunniten in Bagdad und andere Regionen fürchten, schiitische Milizen könnten sich an ihnen für die Gräueltaten, die ISIS insbesondere an Schiiten verübt, in ebenso brutaler Weise rächen. Nur eine radikale politische Veränderung, vor allem ohne gewaltsame Interventionen von außen, kann dem Irak den Ausbruch eines neuen, wohl noch grausameren Bürgerkrieg ersparen.
 

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen